G 464 (M): Richtlinie zur Ermittlung der Wasserstofftauglichkeit von Gasleitungen mittels bruchmechanischer Bewertung

(Lesedauer: ca. 12 Min) Auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft spielt Wasserstoff als Energieträger eine zentrale Rolle. Im Sinne einer ganzheitlichen und kosteneffizienten Infrastruktur ist die Nutzung des bestehenden Gasnetzes die volkswirtschaftlich sinnvollste Lösung.

Um die Integrität einer Gasleitung für den Einsatz mit Wasserstoff sicherzustellen, veröffentlicht der DVGW mit der Richtlinie G 464 (M) nun ein verpflichtendes „Bruchmechanisches Bewertungskonzept für Gasleitungen aus Stahl mit einem Ausgleichsdruck von mehr als 16 bar für den Transport von Wasserstoff“. Dort werden die Anforderungen an eine bruchmechanische Bewertung von bestehenden und neu zu errichtenden Gasleitungen definiert.

Was das genau bedeutet und wer eine bruchmechanische Bewertung durchführen kann, erfahren Sie in diesem Artikel.

Warum muss eine Rohrleitung bruchmechanisch bewertet werden?

Wasserstoff sowie Erdgas-Wasserstoff-Gemische können die Werkstoffeigenschaften des Leitungsstahls nachweislich negativ beeinflussen. Insbesondere wird die Bruchzähigkeit von Stählen dabei reduziert. Man spricht dann von Wasserstoffversprödung.

In der Folge erhöht sich die Risswachstumsgeschwindigkeit und die technische Restlebensdauer der Leitungen kann zum Teil erheblich verkürzt werden.

Die bruchmechanische Bewertung dient in diesem Zusammenhang als Nachweis, dass die Rohrleitung für den maximal zulässigen Betriebsdruck ausreichend dimensioniert und für den Betrieb mit Wasserstoff geeignet ist.

Ziel der G 464 ist es, „ein allgemeingültiges Konzept […] zur bruchmechanischen Bewertung der Wasserstofftauglichkeit für Errichtung bzw. Umstellung festzulegen.“ (S. 5, DVGW G 464 Merkblatt)

Anwendungsbereiche der DVGW-Richtlinie G 464

Für die bruchmechanische Bewertung eines Rohrleitungsabschnittes und damit für den Nachweis der Wasserstofftauglichkeit können verschiedene Eingangsdaten herangezogen werden.

Diese können entweder aus der Dokumentation des Netzbetreibers, den Normen für zerstörungsfreie Prüfungen (ZfP-Norm) oder einer Electro-Magnetic Acoustic Transducer (EMAT)-Molchung stammen.

Grundsätzlich wird in der G 464 ein angenommener Fehler verwendet. Für die Berechnung von gemessenen Fehlern, z. B. durch Molchung, kann das Merkblatt jedoch sinngemäß angewendet werden.

Das bruchmechanische Bewertungskonzept wird typischerweise für die folgenden beispielhaften Rohrkonfigurationen erstellt:

  • Rohrdurchmesser DN 100 bis DN 1400
  • Auslegungsdruck > 16 bar
  • Wanddicke 3,6 mm

Was gilt für neu zu errichtende Leitungen?

Da neue Rohrleitungen beispielsweise durch die Montage bereits Fehler aufweisen können, ist auch für diese eine bruchmechanische Bewertung durchzuführen. Allerdings gibt es Ausnahmen. Dafür sind in der G 464 drei wesentliche Bedingungen genannt:

  • Werkstoffe mit spezifischer Mindeststreckgrenze  360 MPa und
  • Nutzungsgrad f0 0,5 und
  • vorwiegend ruhende Beanspruchung (durchschnittlich 1 äquivalenter Volllastwechsel mit der Druckschwingbreite MOP pro Jahr)

Wie wird bewertet?

Für die rechnerische Überprüfung werden die angenommenen oder gemessenen Fehlstellen hinsichtlich der statischen Beanspruchung und des Ermüdungsrisswachstums überprüft.

Das Ermüdungsrisswachstum unter Einfluss von Wasserstoff wird durch eine Abschätzung des Risswachstums bei sich ändernden Betriebsdrücken und Fahrweisen der Leitungsabschnitte ermittelt. Dabei darf die für die jeweilige Rohrkonfiguration zulässige Rissgeometrie nicht überschritten werden.

Jede Rohrkonfiguration muss dabei separat untersucht werden, so dass für eine Trassenbewertung teilweise mehrere verschiedene Bewertungen durchgeführt werden müssen. Für die Beurteilung des maximal zulässigen Druckes gilt immer das Prinzip des schwächsten Gliedes.

Rechtliche Rahmenbedingungen für die bruchmechanische Bewertung

Der bruchmechanischen Bewertung gem. G 464 liegen die folgenden DVGW-Arbeitsblätter zugrunde:

  • Das Arbeitsblatt G 221 des DVGW definiert einen Leitfaden für die Anwendung des DVGW-Regelwerks auf die leitungsgebundene Versorgung mit wasserstoffhaltigen Gasen.
  • DVGW G 409 ist das maßgebliche Arbeitsblatt für Stahlleitungen größer 16 bar, die für den Wasserstofftransport umgestellt werden sollen.
  • DVGW G 463 (A), Anhang C ist das maßgebliche Arbeitsblatt für neu zu bauende Stahlleitungen > 16 bar, die für den Wasserstofftransport genutzt werden sollen.
  • Die Verifizierung gemäß DVGW-Arbeitsblatt G 466-1 dient dem Abgleich der prognostizierten und der tatsächlich aufgetretenen Betriebsdruckänderungen. Die Überprüfung muss dabei frühzeitig, d.h. vor Erreichen der zulässigen Risstiefe, erfolgen.

Sowohl die G 463 als auch die G 409 und die G 464 gelten derzeit für Leitungen mit Wasserstoffanteilen von bis zu 100 Vol.-%. Erste Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass bereits Anteile von 10 Vol.-% Wasserstoff vergleichbare Auswirkungen auf die Stähle haben. Das Regelwerk empfiehlt daher eine sinngemäße Anwendung auch für geringere Wasserstoffanteile.

Warum braucht es die G 464? 

Bisher gab es in Deutschland kein einschlägiges Regelwerk zur Bestimmung der Wasserstofftauglichkeit von Gasleistungen. Orientierung bot lediglich das amerikanische Regelwerk American Society of Mechanical Engineers (ASME) B31.12. Hier finden sich Ansätze, die eine entsprechende Bewertung für 100 % Wasserstoff zulassen. Die bei der Erstellung des ASME-Standards verwendeten Stähle unterscheiden sich jedoch teilweise von den in Deutschland verwendeten Stahlsorten. Das amerikanische Regelwerk konnte daher nur konzeptionell für die rechnerische Bewertung herangezogen werden.

Inzwischen sieht das DVGW-Regelwerk sowohl für neu zu errichtende Leitungen als auch für die Umstellung von Erdgasleitungen auf Wasserstoff eine bruchmechanische Bewertung vor.

Unter aktiver Mitarbeit von ONTRAS und weiteren Projektbeteiligten wurde nun das neue DVGW-Merkblatt G 464 „Bruchmechanisches Bewertungskonzept für Gasleitungen […]“ fertiggestellt.

Das Rechenmodell: Umsetzung der bruchmechanischen Bewertung bei ONTRAS

Im Rahmen erster Leitungsumstellungsvorhaben hat ONTRAS Gastransport GmbH ein eigenes Rechenmodell für die bruchmechanische Bewertung von Leitungen entwickelt. Um das Modell so sicher und zuverlässig wie möglich zu machen, wurde es an der TU Bergakademie Freiberg umfassend geprüft und verifiziert. Damit ist sichergestellt, dass die Bewertung der betrachteten Leitungen den höchsten Sicherheitsstandards entsprechen. Zum Abschluss wurde gegenüber ONTRAS die Regelwerkskonformität sowie der Stand der Technik der Berechnungssoftware bescheinigt.

Das Modell basiert auf den Grundlagen der AMSE B31.12, dem Formelwerk aus API579-1 und FKM-Richtlinie “Bruchmechanischer Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile” sowie den Ergebnissen des DVGW-Projekts zur Werkstoffuntersuchung deutscher Leitungsstähle. Dem Arbeitskreis der G 464 diente unter anderem dieses Modell als Basis.

Was wird berechnet?

Mit der Berechnung werden konkrete Rohrkonfigurationen bewertet. Jede Konfiguration wird mit verschiedenen Prüfkriterien untersetzt. Aus diesen ergeben sich dann “Failure Assessment Diagramme” (FAD) und Risswachstumskurven, die in Verbindung mit dem prognostizierten Betriebsregime Aufschluss über die Lebensdauer der Konfiguration in Lastwechseln (Zyklen) und in Jahren geben. Wie genau das aussehen kann, sieht man in der folgenden Grafik.

Failure Assessment Diagramm und Risswachstumskurve zeigen die Lebensdauer einer Leitung in Abhängigkeit von Lastwechseln und Jahren. | Quelle: Auszug ONTRAS Rechenmodell

Exkurs: DVGW-Forschungsprojekt zur Wasserstofftauglichkeit gängiger Leitungsstähle im deutschen Netzgebiet

Zusammen mit mehreren Projektpartnern hat der DVGW eine stichprobenhafte Untersuchung gängiger Leitungsstähle im deutschen Netzgebiet zur Bewertung auf Wasserstofftauglichkeit in Anlehnung an die zugrundeliegenden Untersuchungen der ASME B31.12 vorgenommen.

Das Projekt des Innovationsprogramms Wasserstoff wird seit August 2020 gemeinsam mit einem Fernleitungsnetzbetreiber in der Materialprüfanstalt der Universität Stuttgart bearbeitet.

Das Ziel des Vorhabens ist, die in Deutschland eingesetzten Stähle zu bewerten und damit Kennzahlen für eine sichere, einheitliche bruchmechanische Bewertung zu erhalten.

Die Auswahl der zu untersuchenden Werkstoffe erfolgte möglichst repräsentativ für das deutsche Gasnetz und soll Stähle für Leitungen und Anlagen sowohl von Fernleitungs- als auch von Verteilnetzbetreibern umfassen. Anschließend wurde die Übertragbarkeit des ASME-Standards auf die untersuchten Stähle validiert.

Konkrete Ergebnisse dieser Untersuchungen ergeben sich auch aus den Ergebnissen des DVGW-Projektes SyWeSt H2.

Die Ergebnisse von SyWest H2 liegen ONTRAS vor. Sie sollen veröffentlicht werden und stehen dann zum Erwerb zur Verfügung. Wann genau der Ergebnisbericht veröffentlicht wird ist jedoch noch unklar.


Fazit

Wasserstoff ist fester Bestandteil einer klimaneutralen Zukunft und die Umrüstung bestehender Erdgasnetze auf Wasserstoff die volkswirtschaftlich sinnvollste Lösung. Mit dem DVGW-Merkblatt G 464 liegt nun ein allgemeingültiges Konzept zur bruchmechanischen Bewertung vor, das als einheitliche Grundlage für den sicheren Einsatz von Wasserstoff dient – unabhängig davon, ob es sich um neu zu errichtende Leitungen oder um die Umrüstung bestehender Netze handelt.

INFRACON bietet die bruchmechanische Bewertung mit Ergebnisbericht an. Die Eingangsparameter der zu untersuchenden Leitungen können auf unterschiedliche Weise zur Verfügung gestellt werden. Grundsätzlich werden sie jedoch in enger Absprache mit dem Auftraggeber im Rahmen der zulässigen Werte ermittelt bzw. angenommen. Idealerweise liegen zudem vollständige Dokumentationsdaten oder auch konkrete Molchergebnisse vor.

Melanie Graupner

Marketingmanagerin

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Ansprechpartner

Marek Preißner

Leiter Kundenmanagement
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